Ansprache von Dr. Sven Friedrich zur Aufführung der IX. Symphonie von Ludwig van Beethoven im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth am 22. Mai 2022
Ich vertraue auf den deutschen Geist […] Ich vertraue […] auf den Geist der deutschen Musik […]; ich vertraue auf die dramatischen Mimen und Sänger […] Ich vertraue auf unsere Künstler, und darf dieß laut aussprechen an dem Tage, der eine so auserwählte Schaar derselben auf meinen bloßen freundschaftlichen Anruf aus den verschiedensten Gegenden unseres Vaterlandes um mich versammelte: wenn diese, in selbstvergessener Freude an dem Kunstwerke, unseres großen Beethoven’s Wunder-Symphonie Ihnen heute als Festgruß zutönen, dürfen wir Alle uns wohl sagen, daß auch das Werk, welches wir heute gründen wollen, kein trügerisches Luftgebäude sein wird […].
Vertrauen und Zuversicht sprechen aus diesen Worten Richard Wagners in seiner Ansprache zur Grundsteinlegung des Festspielhauses an seinem 59. Geburtstag heute vor genau 150 Jahren, genau hier an diesem Ort – allerdings an einem gewöhnlichen Mittwoch. Und er sollte Recht behalten. Weniger in seinem nationalen Überschwang, aber doch in seiner Einschätzung der – trotz allem – zeitenübergreifenden Dauerhaftigkeit und Bedeutung der Bayreuther Festspiele.
Vertrauen und Zuversicht gehören ansonsten jedoch nicht unbedingt zu den wesentlichen Charaktereigenschaften des Kulturpessimisten Richard Wagner. Vertrauen und Zuversicht sind auch für uns angesichts der gegenwärtigen Krisen von Pandemie und Krieg nicht leicht zu gewinnen. – Und doch…!
Dass wir heute hier zur Feier des 150. Jahrestags der Grundsteinlegung des Festspielhauses zusammengekommen sind, bezeugt nämlich bereits jenes Vertrauen und jene Zuversicht, die auch Richard Wagner in seinen Worten zum Ausdruck brachte, – Vertrauen und Zuversicht in eine Zukunft aus dem Bewusstsein der Geschichte – trotz allem. Oder gerade auch deswegen!
So sollen von heute an in gleichsam historischen Parallelaktionen auch in den folgenden Jahren bis 2026, wenn sich die ersten Bayreuther Festspiele von 1876 zum 150. Male jähren, jeweils Veranstaltungen stattfinden, die einen Bezug zu einer Begebenheit im Zusammenhang mit Wagners Biografie haben und auf diese verweisen. […]
Ein eigenes Theater, ausschließlich für das eigene Werk – welche Vermessenheit! Nie zuvor in der Kulturgeschichte war dergleichen auch nur gedacht, geschweige denn verwirklicht worden. Wie und warum auch? Das Schauspiel war bis ins 18. Jahrhundert vor allem Sache des fragwürdigen fahrenden Volkes, eine Art senkrechtes Gewerbe, dem horizontalen nahezu gleichgestellt, die Oper Angelegenheit der Fürsten und ihres Hofstaats – wie es sich gerade in diesem prachtvollen Bau hier eindrucksvoll beweist.
Erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts und dem Zeitalter des Idealismus wandelte sich der Künstler vom Hofangestellten zum Individualgenie, weniger den Wünschen seiner fürstlichen Auftraggeber als dem Selbstverständnis künstlerischen Schöpfer- und Ausdruckswillens verpflichtet. Das künstlerische Genie war Abbild und Projektionsfläche des neuzeitlichen Menschenbildes nach Descartes, Rousseau und Kant. Der „kleine Gott der Welt“, wie Goethe den Menschen nannte, wurde zum Maßstab der Dinge, Gott selbst dagegen im anthropozentrischen Zeitalter von Industriekapitalismus, Wissenschaftspositivismus und Säkularität vermeintlich überflüssig, arbeitslos und von Hegel und Nietzsche schließlich gar zum Tode verurteilt. (Es wird Ihm freilich wenig ausgemacht haben, war Er doch seit fast 2000 Jahren daran gewöhnt). Am Ende aber steht Nietzsches „Übermensch“ ohne Glauben und Demut, der Selbsterlöser mit einer Moral „Jenseits von Gut und Böse“, welcher der göttlichen Gnade scheinbar nicht mehr bedarf und damit der Beginn des Elends der Moderne, das bis heute reicht, die Anmaßung nämlich, mit der der Mensch sich an Gottes Stelle setzt – und so seine Welt und seine Gattung durch Krieg und Vernichtung seiner Lebensgrundlagen ziemlich erfolgreich zerstört.
Und kaum gab es in dieser Welt ohne Gott einen größeren künstlerischen Monomanen als den selbstherrlichen Kunst-Autokraten Richard Wagner mit seinem hypertrophen Anspruch. Die ganze deutsche Sagenwelt destilliert er zur Oper und die nordische dazu. Ein Heldendrama über „Siegfrieds Tod“ ist noch zu wenig. Es wächst sich aus zum veritablen Weltenepos der „Ring“-Tetralogie, deren Aufführung schon seit ihrem konzeptionellen Beginn in den 1850er Jahren nirgends anders vorgesehen ist als in einem eigens dazu errichteten Theater an einem eigens dafür bestimmten Ort. Und das von einem politischen Exilanten ohne Einkommen.
Da bedurfte es freilich schon eines Königs, der sich 1864 im jugendlichen Ludwig dem II. von Bayern wunderbarer Weise auch findet. Das Projekt eines Wagner-Theaters in München scheitert indes, weil Wagner sich in die bayerische Kabinettspolitik einmischte, auch sonst reichlich für Unruhe und Skandale sorgte und darob schließlich vom König aus München ausgewiesen wurde. – Ärgern werden‘ sich heut, die Münchner, dass sie das Theater damals nicht gebaut haben. Dann hätten sie heute die Festspiele, das Wagner-Museum wäre in der Brienner Str. 21 und Bayreuth hätte außer diesem herrlichen Theatergebäude hier nur Bier, Brodwärschd, Jean Paul und sa Ru‘ – was dem einen oder anderen vielleicht so unlieb gar nicht wäre…
So aber übersiedelte Wagner Ende April 1872 vom Idyll in Tribschen am Vierwaldstätter See nach Bayreuth, wo der Magistrat ihm unvorsichtiger Weise ein Grundstück für das zu errichtende Festtheater angeboten hatte. – Aber das alles wissen Sie natürlich!…
Indessen hatte Bayreuth seit der ersten Begegnung des 22-jährigen Richard Wagner auf einer Reise von Karlsbad nach Nürnberg im Juli 1835 in der Biografie des nachmaligen „Meisters“ keine Rolle mehr gespielt. Immerhin aber erinnerte er sich noch über 30 Jahre später, als er Cosima Mitte März 1866 für seine Autobiografie Mein Leben diktierte: Die Fahrt durch Eger, über das Fichtelgebirg, mit der Ankunft in dem vom Abendsonnenschein lieblich beleuchteten Bayreuth, wirkte noch bis in späteste Zeiten angenehm auf meine Erinnerung.[1] Und nur einen Monat zuvor hatte er am 20. Februar 1866 in einem Brief an Hans v. Bülow geradezu prophetisch geschrieben: Ich wünschte, der König gäbe mir einen Pavillon des Bayreuther Schlosses zum Ruhesitz: Nürnberg in der Nähe – Deutschland um mich herum.[2]
Nun, ein Pavillon des Bayreuther Schlosses wurde es zwar nicht, dafür aber das Haus Wahnfried, in welchem Wagner ab 1874 sein letztes bedeutungsvolles Lebensjahrzehnt verbrachte, wo er mit den Worten „Vollendet in Wahnfried – ich sage nichts weiter!!“ am 21. November desselben Jahres die „Götterdämmerung“ vollendete – und trotzdem noch den „Parsifal“ komponierte, von wo aus er den Bau des Festspielhauses leitete und unter massiven Schwierigkeiten und mehrfach am Rande des Scheiterns 1876 den „Ring“ und 1882 „Parsifal“ uraufführen konnte.
Die „erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst“ hatte Nietzsche – damals noch überzeugter Wagnerianer, später dann das Gegenteil – die ersten Festspiele genannt, nämlich die Emanzipation der Kunst von der Politik um ihrer selbst willen, die zeitgemäße Renaissance des Theaters der antiken griechischen Polis, die „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“. – Wirklich? Waren die Festspiele nicht vielmehr auch von Beginn an die Manifestation von Wagners metapolitischer Ästhetik des Gesamtkunstwerks und als solche sowohl Ausdruck als auch Anschlussmöglichkeit für Zeitgeist und prekäre Ideologien? Aber das ist ein anderes Thema.
Die Neunte Symphonie Beethovens war jedenfalls das musikalische Werk, das für Richard Wagner zeitlebens eine höhere Bedeutung besaß als jedes andere und sie erklang demnach auch hier, genau an diesem Ort, heute vor genau 150 Jahren, dirigiert von keinem Geringeren als Wagner selbst zur Feier der Grundsteinlegung seines Festspielhauses. Und darum erklingt sie auch heute und hier, genau 150 Jahre danach.
Es mag da aber vielleicht auch die Frage gestattet sein, ob über den heutigen Anlass hinaus, nach jetzt 2 Jahren Covid-Pandemie mit weltweit bislang über 6 Mio. Toten und während des fürchterlichen, barbarischen Feldzugs, der vom derzeitigen Machthaber im Kreml gegen die Ukraine entfesselt worden ist, – es mag also die Frage gestattet sein, ob Beethovens Neunte mit ihrem ekstatischen Finale überschäumenden Freuden-Jubels angesichts all dessen überhaupt angemessen ist.
Ich denke: ja, durchaus. Nach der schwebenden Melancholie des dritten Satzes, der vielleicht wie ein Traum von Frieden, Harmonie und Beruhigung erklingt, reißt uns der Beginn des 4. Satzes wie ein wilder Aufschrei aus diesem Traum und mag so wie ein Fanal des brutalen Entsetzens erscheinen, das gerade heute wieder gegenwärtiger ist als in den Jahren zuvor. Wie der Versuch, sich zu sammeln, ziehen die Reminiszenzen der Themen aus den vorangegangenen Sätzen vor unserem Ohr vorüber, bevor endlich die menschliche Stimme die Wut des Orchesters und damit auch auf revolutionäre und bis dato unerhörte Weise die Form der Symphonie als reines Instrumentalstück durchbricht und mahnend beschwichtigt: „O, Freunde, nicht diese Töne!“ – Und so mögen wir gerade heute Beethovens Vertonung von Schillers Ode an die Freude, mit der das Werk endet, vor allem als Ausdruck von Hoffnung und jener Zuversicht begreifen, von der auch eingangs die Rede war: Angst, Aggression und Krieg werden nicht und nie das letzte Wort behalten, sondern am Ende wird auch dieses Mal, freilich und wie furchtbarer Weise stets durch Leiden und Opfer erzwungen, per aspera ad astra, das jubelnde Triumphlied auf die Freude, den „schönen Götterfunken“ und die „Tochter aus Elysium“, erklingen – nicht nur hier und heute. So mag uns Beethovens unsterbliches Werk trotz Zweifel und Verunsicherung jene Zuversicht vermitteln, ohne die ohnehin alles verloren wäre.
So ist die Freude als Ausdrucksform der Liebe – neben Glaube und Hoffnung das stärkste menschliche Vermögen – die wesentliche Verbindung zwischen Beethovens Neunter und der Idee der Bayreuther Festspiele. Dies schon wäre ein guter Grund, warum Wagner gerade dieses Werk zur Grundsteinlegung hier in der zeitlosen Schönheit des Markgräflichen Opernhauses aufführte. Das Humane, das „Reinmenschliche“, von dem Wagner so oft schrieb, ist darum vielleicht eben auch das innere Wesen des christlichen Mysteriums von Glaube, Hoffnung und Liebe, das Wagner mit den Worten meinte, die er auf jenem Blatt notierte, das in einer Kapsel in den Grundstein des Festspielhauses eingemauert wurde:
Hier schließ’ ich ein Geheimnis ein,
da ruh’ es viele hundert Jahr’.
So lange es bewahrt der Stein,
macht es der Welt sich offenbar.
Oder um mit dem Titel eines Aufsatzes von Wagner aus dem Jahr 1879 über die Zuversicht auf die zukunftsbildende Kraft von Kunst und Kultur als Ausdruck jenes Allgemein-Menschlichen zu fragen: „Wollen wir hoffen?“
[1] Richard Wagner: Mein Leben, hg. v. Martin Gregor-Dellin, München: List 1963, S. 112.
[2] Richard Wagner: Sämtliche Briefe [SB] Bd. 18, hg. im Auftrag der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth von Andreas Mielke, Wiesbaden, Leipzig, Paris: Breitkopf & Härtel 2008, S. 79.